Die Bombenwelle

Vor dem kleinen Nazaré wagen Surfer Teufelsritte auf den höchsten Wellen der Welt. Was eine Email harmlos ins Rollen brachte, ist zum Geschäft mit dem Nervenkitzel geworden
Text & Fotos Marc Bielefeld

 

Morgens um sieben rollen die Brötchenwagen durch die Gassen von Nazaré, am Sítio, in der Altstadt oben auf den Felsen, poltern die Rollos der Gemüseläden hoch und sitzt der Chef vom Café „Cores e Sabores“ vor seinem Croissant und liest die Zeitung. 

 Wellen? Ach, die Wellen. Vielleicht wird es welche geben, vielleicht auch nicht. Mit den „Ondas“ sei es immer so eine Sache. Das sagt der Mann, der leicht nach Haarwasser duftet, in seinen dunklen Herrenschuhen und dem grobkarierten Wollpollunder; er beugt sich lieber über den Sportteil. Ein Schiedsrichter hat im Spiel von Benfica neulich Riesenmist gebaut, ein Skandal, der deutlich schwerer wiegt als eine 500.000 Tonnen schwere Wasserwand. 

 O mar, sagt der Boss. Das Meer ist das Meer. Neben seinem Galão qualmt die Zigarette.

An den Wänden des kleinen Cafés an der Travessa Bartolomeu hängen signierte Fotos. Ein Garret McNamara schaut da von der Wand, daneben ein Brasilianer, der sich „Koxa Bomb“ nennt. Koxa heißt auf Portugiesisch Oberschenkel, Keule. Manchmal sitzen sie genau hier an den kleinen Tischen des Cafés. Die Heroen, die modernen Herkulesse der Meere. Sie warten dann auf das, was kommt, vielleicht auch nicht kommt. Sie trinken Tee. Es sind auf den Fotos auch die Wellen zu sehen, um die es in diesem kleinen Nazaré nunmehr geht, ob die Alten es wollen oder nicht. Wellen wie gefräßige Hochhäuser. Die Kaffeemaschine röchelt. Patricia, die Frau am Tresen, verkauft süße Teilchen. Vanille-Natas, kleine Empanadas für achtzig Cent das Stück.

Portugal, ein weißer Ferienort am Meer. Eigentlich alles ganz normal hier. Würde dieses Nazaré in den Wintermonaten, wenn alle Bedingungen stimmen, nicht zu einer Art römischen Arena mutieren. Zu einem Schauplatz, gegen den jedes Fußballstadion in gewisser Hinsicht ein Witz ist. Beim Fußball droht keiner zu ersaufen. Da wird keiner bei lebendigem Leib vom Meer zerfetzt.

Aber nun hat Nazaré die Tragödie entdeckt.

 

Unten an der Promenade vor der weiten Bucht hängt schon jetzt ein feiner Schleier salziger Gischt in der Luft, und unweit der Rua dos Banhos, gleich hinter der blaugekachelten Kirche am Meer, liegt André Santos in seinem Bett und erwacht langsam. Er geht in die Küche, kann die Brandung von dort schon hören. Als nächstes schnappt er sich sein Handy, schaut, wie jeden Morgen, in die einschlägigen Apps der Wellenvorhersagen. Santos macht den Surfshop hier in Nazaré, er ist einer der Locals der frühen Tage, und selbst wenn die Morgenschlagzeilen vermeldeten, dass Trump den Mond bombardierte, würde ihn das im Moment weniger tangieren als eine perfekte Welle, die in der südlichen Bucht bricht oder sich womöglich am Praia do Norte erhebt.

Dort, an dem inzwischen berühmten kleinen roten Leuchtfeuer auf den Felsen, vor dem sich das Meer zu „Bomben“ hochschaukeln kann. Zu Wasserwalzen, die 20, 25, manche sagen sogar 30 Meter hoch werden können. Die kleine Stadt Nazaré am Atlantik, anderthalb Stunden nördlich von Lissabon, eine Disco, sechs Bars, 14.000 Einwohner, kennt diese unfassbaren Wellen, seit sie denken kann. Seit die Fischer im wütenden Meer ertrinken und die Heilige Maria oben in der alten Kapelle Richtung Ozean blickt.

Aber seit 2011, seit der Amerikaner kam und eine dieser Riesenrutschen aus rasendem Salzwasser das erste Mal leibhaftig surfte, ist Nazaré nicht mehr nur die Stadt der Fischer, der Ferienort am Meer. Seit dem Ritt des Garrett McNamara hat Nazaré auf Millionen Handys die Runde gemacht, ist in sämtlichen Surfmagazinen und internationalen Abendnachrichten erschienen: als die Stadt mit den höchsten Wellen der Welt – Wellen, die Surfer am Praia do Norte wirklich abreiten und bisher sogar überlebt haben.

Um halb neun steht André Santos unten am Strand und schaut unter seiner Daunenkapuze aufs Meer. Es nieselt bei neun Grad, der Morgen grau und schal. Nein, hier laufen keine glasgrünen hawaiianischen Wellen wie jene vor Pipeline, Jaws, Haleiwa. Auch bricht hier kein gestochen scharfes Biest wie jene wunderschöne cleane Killerwelle vor Tahiti, der sie den Namen Teahupoo gegeben haben. Vor Nazaré bricht vielmehr, was man kalten Angstschweiß nennen könnte. Ein ozenanischer Kanonenschlag, den sie nicht umsonst als Bombe bezeichnen, wenn er denn kommt. 

Ein Abgrund aus Wasser. Schnell, chaotisch, unberechenbar. Es bilden sich, wenn die nötigen Parameter zusammentreffen, drei Peaks. Der südlichste ist der schlimmste. Der höchste, der schönste, der tödlichste. Die Welle bricht an dieser Stelle sehr nah an den Felsen, kurz vorher holt sie fast lotrecht aus und türmt sich an ihrem höchsten Punkt anschließend auf wie zu einer trapezförmigen Kapuze. Dann kollabiert die Welle zu einer Linken. Schlägt auf alles, was sich ihr in den Weg stellt, mit einer Macht von gut und gern tausend Kilonewton pro Quadratmeter ein. Das entspricht etwa dem Zehnfachen jener Kraft, die auf einen menschlichen Körper einwirkt, wenn dieser im Auto mit hundert km/h frontal gegen eine Wand fährt und Anschnallgurt und Airbag ihn zermalmen wollen.

Foto der Welle: Rodrigo Koxa by Rafael Alvim

 

Garret McNamara, der schnittige Großwellendompteur aus Hawaii, hat Nazaré einmal so beschrieben: „Du nimmst die Monsterwelle von Jaws auf Maui, die Steilwände von Mavericks in Kalifornien und den Shorebreak von Waimea Bay auf Oahu, du setzt sie allesamt auf Steroide und wirbelst anschließend alles zusammen. Dann hast du die Welle von Nazaré.“

André Santos blickt aufs Meer. Er steht am Point vor seinem Apartment, am Sockel des großen Felsplateaus. Er ist eigentlich Body Boarder, mag Wellen bis vier, fünf Meter. Weil er das Revier jedoch sehr gut kennt und seit Jahren vor Ort lebt, arbeitet er inzwischen als Security Coordinator im Team von Sebastian Steudtner, der sich als deutscher Profi im Big-Wave-Zirkus anschickt, die höchsten Wellen des Planeten zu reiten. Steudtner hat vor einigen Jahren eine 22-Meter-Wand vor Nazaré gesurft, nun jagt er der 25-Meter-Marke hinterher.

Die Höhen der gerittenen Wellen lesen sich inzwischen wie ein Zahlensalat der Superlative. McNamara meisterte 2011 einen 78-Fuß-Koloss (23,77 Meter). Das war lange der offizielle Rekord. Bis der Brasilianer mit dem Spitznamen „Koxa Bomb“ kam, die Oberschenkelbombe, und die Marke am 8. November 2017 auf 80 Fuß (24,38 Meter) hochschraubte. So steht er im Guinness-Buch der Rekorde, derweil immer wieder Fabelritte durch die Medien geistern. McNamara soll schon vor Jahren eine 30, der Brasilianer Hugo Vau gar eine 35 Meter hohe Welle gesurft sein. Offiziell aber ist die 100-Fuß-Schwelle (30 Meter) noch nie erreicht worden. Unbestritten hingegen ist: Sämtliche Superwellen dieser Ausmaße liefen vor Nazaré.

Es ist nicht ganz einfach, in den oberen Etagen der Big- Wave-Statistiken zu landen. Viele Faktoren müssen zusammenspielen. Der Mensch, die Technik, vor allem: die Natur. Die Show vor Nazaré kannst du nicht mal eben anpfeifen, und los geht’s. Das geht vielleicht beim Fußball. Hier geht es um Gottgewalten.

Direkt vor der Landspitze am Leuchtturm endet der „Nazaré Canyon“. Ein Tiefseegraben zwischen der eurasischen und afrikanischen Kontinentalplatte, der aus einer Tiefe von 4900 bis auf 50 Meter jäh emporsteigt und die vom offenen Ozean heranwogenden Wassermassen wie eine Düse komprimiert. Trifft nach einem Sturm im Atlantik eine massive Dünung auf diesen Abschnitt des Kontintentalsockels, wirkt die Schlucht wie ein Teilchenbeschleuniger. Die Wellenlängen reduzieren sich, die Wassermassen laden sich mit Energie auf. Nazaré aber beherrscht noch einen weiteren Spezialeffekt. Die langsameren Wellen auf dem Sockel treffen auf die schnelleren im Canyon, schaukeln diese abermals empor, hinzu kommen brachiale Strömungen am Ufer, bis die geballten Kräfte das herangallopierende Meer dorthin aufbäumen, wo es auf den geringsten Widerstand trifft: nach oben, gen Himmel.

Santos starrt auf sein Handy, vergraben in seine Daunenjacke. „Vielleicht kommt was“, sagt er. „Morgen oder übermorgen.“ 

Santos ist kein Freund großer Worte. Er zeigt lieber aufs Display. Die Vorhersage prophezeit eine Dünung von vier bis fünf Meter. Hinzu muss nun noch eine Wellenperiode von mehr als 13 Sekunden kommen, der Wind nicht zu schwach, nicht zu stark wehen. Am besten ablandig, aus Nordost bis Ost. Aber dann springt der Nord-Canyon an. Der Wellengenerator von Nazaré. 

Am Ende jedoch weiß niemand, wann was kommt. Nicht einmal all die Messbojen, Rechenmodelle und Satellitenbilder. Wann es in Nazaré kracht, wissen letztlich nur Poseidon und das Meer.

Zwischen November und Ende März, wenn über dem Atlantik die Tiefdruckgebiete kreisen, harren inzwischen bis zu vierzig, fünfzig Surfer im Ort aus. Sie wohnen in Campern, quartieren sich im Sportzentrum ein, mieten billige Zimmer. Allerdings, sagt Santos, hätten nur etwa 20, maximal 25 Menschen auf der Welt das Zeug, die ganz großen Wellen zu surfen. Die anderen trainieren, tasten sich heran. Wagen sich von den kleineren in die größeren Peaks.

Früher standen Santos und seine Freunde einfach am Strand, schauten zu. Vor ihren Augen detonierte die blanke Macht der Natur. Kein Mensch im Wasser. Lange hielten sie es für unmöglich, dass solche Wellen surfbar wären. Lebensmüde, verrückt. Das hat sich nun geändert. Es geht. Nazarés Nordstrand ist überlebbar.

Ein Bekannter von Santos war es, der das ganze ins Rollen brachte. Dino Casmira, Lehrer, Hobbysurfer und Sportbeauftragter im Rathaus von Nazaré schickte jene ominöse Mail an den Amerikaner  im fernen Hawaii. Er war das Jahr 2005 und McNamara der einzige Big-Wave-Surfer, der eine Homepage hatte. Casmira mailte ihm ein Foto einer der Riesenwogen vor seiner Haustür und schrieb, sinngemäß: Schau dir das mal an. Schon mal so was gesehen? Hat noch nie einer gesurft. Und wir wundern uns: Geht das überhaupt?

McNamara antwortete keine halbe Stunde später. Er war baff. Dennoch dauerte es sechs Jahre, bis der Amerikaner anreiste, bis alles organisiert war, die Welle kam und er sie 2011 tatsächlich das erste Mal ritt. Der Startschuss. Nazaré wurde auf einen Schlag berühmt. Und ab dann wurde es immer irrer.

Das große Spektakel heute, das behagt weder Casmira noch Santos so recht. „Einige der Big Wave Surfer, die kommen, machen ihre eigenen Regeln, sie haben keinen Respekt“, sagt Santos. Sie parken, wo sie wollen, preschen mit ihren Jetskis auch durch die kleinen Wellen. Der Ort habe sich verändert. Manchmal kommen jetzt Reisebusse, dann stehen oben auf den Felsen tausend Menschen und schauen den Surfern zu. An großen Tagen wird Nazaré dann zur römischen Arena. Unten im Meer die Gladiatoren, oben auf den Rängen die glotzende Menge. Die Show folgt einem alten Muster: Mensch gegen Natur – hier allerdings in Reinform zelebriert. 

Hautnah, live und potentiell fatal.

Längst vermarktet Nazaré seine Winterwellen. Bürgermeister Walter Chicharro brüstet sich stolz damit, auf der Weltkarte der Attraktionen aufgetaucht zu sein. Das kleine Nazaré ganz groß. Früher kamen die Wallfahrer, meist in aller Stille, kamen, um die Jesus stillende Maria zu sehen: eine dreißig Zentimeter kleine Holzstatue oben in der alten Kirche. Heute sollen bis zu 400.000 Touristen mehr in den Ort kommen. Menschen, die einmal die kapitalen Wellen sehen und das Surfmuseum am Leuchtturm besuchen wollen. Viele im Ort begrüßen das Theater, anderen ist es egal, wenn die Kamerateams durch die Gassen stiefeln und mal wieder auf einen „Big Day“ warten. Voll ist es in Nazaré darum noch lange nicht.

Santos sieht den ganzen Zinnober um die dicken Wellen mit gemischten Gefühlen. Vielleicht weil er weiß, was es heißt, sich in die Waschküche vor dem Leuchtturm hineinzubegeben. Denn nicht nur die Natur muss bei der ganzen Sache mitspielen. Vor allem die Akteure müssen wissen, was sie tun.

Bei Wellen dieser Kategorie stehst du nicht einfach am Strand, wachst dein Board und paddelst durch die Brandung ins Line-up. Kein Mensch käme da durch. Du brauchst System, Geld, ein ganzes Team. Du benötigst eine Genhemigung vom Küstenkommandanten, um mit dem Jetski drüben vom Hafen aus zu starten, einmal quer über die Bucht zu preschen und dich den mächtigen Wellen von hinten zu nähern. 

Die Jetskis, die für solche Manöver in Frage kommen, haben bis zu 350 PS, kosten bis zu 30.000 Euro pro Stück und werden bis zu 90 km/h schnell. Und diesen deinen Untersatz solltest du penibelst warten. Wenn die Jetskis im falschen Moment versagen, dich nicht vor der nächsten Welle aus der Brandungszone schleppen, sind die Chancen abzusaufen ziemlich hoch. Gut gesponsorte Profis haben neben dem Pilot, der sie auf die Welle zieht, darum zwei weitere Jetskis im Wasser. Allein zur Rettung. Um die Jetskis in der Brandung zu beherrschen, muss man trainieren. Das genaue Anfahren, das gezielte Ziehen, das sekundenschnelle Bergen aus der Gefahrenzone. Mit so einem über 400 Kilo schweren Jetski selbst in die Mangel genommen zu werden – kaum auszudenken.

Am Strand steht zudem am besten ein Notfallwagen parat, ausgerüstet mit Sauerstoff und Defilibrator zur Wiederbelebung. Die Geräte könnten zum Einsatz kommen, falls eine Welle dich erwischt, dich zwanzig Meter tief auf den Meeresgrund presst und du länger als eine Minute die Luft anhalten musst. All das, während du Karussel fährst, wie du es noch nie erlebt hast. Die Geräte könnten ebenfalls deine Rettung bedeuten, wenn deine mit einer CO2-Patrone ausgelöste Auftriebsweste dich in dem gurgelnden Chaos nicht schnell genug zurück an die Oberfläche befördert. Der Notfallwagen, der da besser im beigefarbenen Sand des Praia do Norte parkt, ist ferner ausgestattet mit Schmerzmitteln und Halskorsett. Falls die Welle dir das Genick bricht. 

So würden sie dich dann ins Krankenhaus fahren. 

Oben auf den Felsen stehen weitere Leute deines Teams. Ärzte und dein Spotter, der mit den Fahrern der Jetskis über Funk verbunden ist. Diesen Job macht in Steudtners Mannschaft André Santos, wenn es zur Sache geht. Er steht dann da oben, blickt aufs Meer und mustert die Sets. Die Reihen der nahenden Dünung, die sich langsam zu Hügeln aufwallen und zunehmend steilere Grate ausbilden. Diese Sets kommen wie Soldaten. Nichts hält sie auf. Der Surfer, der hinten auf dem Jetski kauert oder bereits auf seinem Brett dümpelt, sieht von alldem nichts. Er kann den Horizont nicht sehen, von wo die Monster heranrollen. Er sitzt im Tal. Er sieht nur Wasser um sich herum.

Der Spotter entscheidet schließlich von oben, auf welchen der durchs Meer marschierenden Wasserberge der Jetskifahrer den Surfer ziehen wird. Der Spotter sucht eine schöne Welle aus. Eine saubere und im perfekten Winkel eintreffende und, natürlich, am besten die höchste von allen. Auf Kommando gibt der Jetskifahrer Gas, der Surfer kommt hinten ins Gleiten, erreicht die nötige Geschwindigkeit von 40 km/h, um so eine Welle zu erwischen. Und dann, exakt im richtigen Moment, lässt der die zwölf Meter lange Leine los. 

Der Jetski entwischt im letzten Augenblick über die steile Lippe, danach ist der Surfer allein. Allein mit sich und einer halben Million Tonnen schreiendem Salzwasser. Eine brodelnde Wand, die hinter seinem Rücken wächst und wächst. Fußschlaufen halten ihn auf dem Board. Das Board ist zwischen anderthalb und zweieinhalb Meter lang. Bleistreben verstärken es, damit es schwer genug ist und während des Donnerritts mit 80 Sachen die beinahe senkrechte Rampe hinunter nicht davonfliegt. Jeder kleine Buckel, jeder Verwehung wird ab jetzt zur Sprungschanze.

Was in diesen Sekunden in den Köpfen der Surfer vor sich geht, wissen nur sie selbst, doch womöglich umreißen es die Zeilen Friedrich Nietzsche, die er in „Jenseits von Gut und Böse“ einmal formulierte: „Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht selbst zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“

Tragödie. Eine innere wie äußere. So, vielleicht. 

Doch das alles reicht noch nicht. Nicht, wenn du kein Purist bist, sondern ein strebsamer Rekordfahrer, der in die offiziellen Annalen des Big-Wave-Surfens will. Dann brauchst du in deinem Team auch noch einen Fotografen oder Kameramann, der deinen Todesritt einfängt und dich kenntlich in Aktion ablichtet. Die Bilder schickst du, wenn das Meer sich geglättet hat, an die World Surfing League WSL, deren Experten mit verschiedenen Rechenmethoden ermitteln, wie hoch die Welle letztlich ausfiel. Ob sie nur eine sehr hohe war, eine extrem hohe – oder womöglich diese eine rare Welle, an der alles passte. Die höchste des Jahres, die höchste der Geschichte.

Erst dann bekommst du die Krone.

Am nächsten Morgen, einem Mittwoch Ende Dezember, kommen die Wellen. Oben am Leuchtturm haben sich hundert, zweihundert Menschen eingefunden, fröstelnd stehen sie im Wind. An diesem Tag steigt der „Gigantes de Nazaré“, ein Fake-Contest fürs brasilianische Fernsehen. Der Sender TV Globo inszeniert eine Art Reality Show rund um die Big-Wave-Surfer; in Südamerika werden Millionen Menschen die Bilder sehen. Es ist eine Mischung aus Evel-Knievel-Drama und knallhartem Wassersport. Für die Akteure, allen voran die brasilianischen Surfer, eine hübsche Bühne. Ihre Sponsoren verlangen Präsenz, die Logos müssen leuchten. Und der Medienwert ihrer maritimen Husarenstücke liegt inzwischen bei mehrstelligen Millionensummen.

Zwei Wochen lang flimmerte der Rekordritt des Rodrigo Koxa schon über eine dreißig Meter hohe Videoleinwand am New Yorker Times Square. Koxa selbst, Portugals Premierminister sowie die Chefs des Wirtschafts- und Tourismusministeriums waren eingeflogen. Sie gaben Interviews, Signierstunden. Nazaré und seine Wellen gingen um die Welt, ein Coup in Sachen Eigenwerbung: Im Nu generierte der 30-Sekunden-Ritt zehn Millionen Klicks. Dieselbe Aktion soll bald auch in São Paulo steigen. Die portugiesiche Monsterwelle in Originalgröße, gebeamt auf die Fronten gläserner Wolkenkratzer. 

In Nazaré selbst sieht man den Wirbel gelassen. Das Meer ist das Meer, der morgendliche Galão noch immer das Wichtigste.

Im kleinen Museum am Leuchtturm spaziert am Vormittag Rodrigo „die Bombe“ Koxa höchstpersönlich an den Reihen der ausgestellten Boards entlang. Der derzeitige Supersurfer lächelt, stellt sich für Selfies auf, die Leute begrüßen ihn wie einen Freund. Hinter ihm knallen zehn, zwölf Meter hohe Wellen an die Felsen, wütet ein tosendes Schaummeer. „Vielleicht werde ich nachher noch reingehen“, sagt er. „Noch sind die Wellen nicht hoch genug.“

Kurz darauf sitzt er einem der Cafés am Platz vor der alten Kirche der Nossa Senhora, erzählt freimütig von seinem Leben für die Welle. Fast den ganzen Winter verbringt er in Nazaré, trainiert, bereitet sich vor, falls die eine noch höhere Welle kommen sollte. Angst, sagt Koxa, habe er vor und während so eines Ritts nicht. „Die Angst kommt nur, wenn du nicht parat für so was bist.“ 

Seine Frau und seine Mutter sind beide Psychologinnen, sie geben ihm Tipps, wie man sich auf derartige Stresssituationen einstimmen kann. Es gehören mentale Tricks dazu, Meditation. Und ein Leben an Vorbereitung. Was auf der Welle dann wirklich geschieht, wissen die Psycholginnen natürlich nicht. Koxa sagt nur, es müsse alles, wirklich alles stimmen. Du müsstest an dem Tag dein bestes Brett fahren, den besten Winkel erwischen, jeder Muskel müsste sich gut anfühlen, dein Körper in Bestform sein und der Jetski-Fahrer auf den Punkt genau fahren. „Ich spüre das“, sagt Koxa, „Jeder kleinste Faktor muss bei 100 Prozent sein, dann kann ich es wagen.“

Über seinen 24-Meter-Sturzflug sagt er: „Die Wellen kamen an dem Tag aus Nordwest, die beste Richtung. Sie waren sehr hoch. Wir waren anderthalb Stunden im Wasser und warteten auf die Bombe. Dann kam das Set. Die dritte Welle war es. Die höchste von allen. Ich habe zu meinem Jetskifahrer geschrien: Ja, die nehme ich! Wir zischten los, nahmen Speed auf, dann ließ ich die Leine los. Der Schatten der Welle kam von hinten über mich. Ich war ganz oben, am steilsten Stück. Es war endlos, es war irre. Die beste Welle meines Lebens. Ich liebe das Meer. Es ist wie mein Vater. Es macht mich zu einem besseren Mensch.“


Am Mittag werden die Wellen noch höher. Deutlich über zehn Meter. Gewaltig in üblichen Maßstaben, klein noch für Nazaré. Am Südende der Stadt machen sich die Surfer am Hafen parat, ziehen die Jetskis aus Containern. Es mutet an wie ein improvisiertes Formel-1-Lager. Surfboards lehnen an den Wänden, hängen unter den Decken. Überall Leinen, Auftriebswesten, Neoprenanzüge. 

Vor einem der Container macht sich Antonio Laureano fertig, beugt die Knie, dehnt die Muskeln, spielt mit einem Ball. Mit seinem Vater wird er rausgehen, der Vater fährt den Jetski. Antonio fing mit vier Jahren an zu surfen, mit zwölf wagte er sich erstmals in große Wellen. Heute ist er fünfzehn, der jüngste der Big-Wave-Surfer der Szene. Seine höchste Welle? „Um die sechzehn Meter, schätze ich.“ Über dem bunten Neopren trägt er die Auftriebsweste mit drei Auslösestrippen, einen Karbonpanzer, um den Rücken zu retten. Schon eine sechs, sieben Meter hohe Welle kann, wenn sie dich falsch trifft, dein Rückgrat zerbrechen wie ein Streichholz.

Warum tut er das? Surfen macht auch in warmen, zwei Meter hohen Wellen einen Heidenspaß. Der Teenager Antonio Laureano sieht aus wie ein grünrot aufgeblasener Footballspieler, seine Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: „Adrenalin. Ich mag es, wenn ich Angst habe.“

Am frühen Nachmittag sind zwölf Surfer im Wasser. Da unten, an der „Bank, die Witwen macht“, wie die Fischer die Ecke am Canyon seit jeher nennen. Dutzende von ihnen haben im Lauf der Jahrhunderte ihr Leben auf dem Meer gelassen. Der Atlantik ist wild, hier aber kann er tobsüchtig werden. Bevor Nazaré seinen Strand aufs Doppelte verbreiterte, flutete die Brandung im Winter regelmäßig die Promenade. Den Frauen, die in den Häusern der erste Reihe wohnten, schwappte das Salzwasser beim Kochen bis zu den Knöcheln.

Die Surfer reiten die Wellen, versuchen die schönste, die höchste Woge des Tages zu erwischen. Oben am Leuchtturm halten die Leute schon jetzt den Atem an. Die Surfer schrumpfen zu Punkten auf weiß marmorierten Steilhängen. Von den Felsen schießt die Gischt zwanzig Merer hoch in die Luft, alle halbe Minute, wenn wieder eine Welle bricht, füllt ein gutturales Donnern die Luft. Ein markerschütterndes Knallen, als würden Bomben einschlagen.

Noch gab es keine Toten beim Surfen in Nazaré. Die Brasilianerin Maya Gabeira wäre 2013 fast ersoffen, erst kürzlich rettete Sebastian Steudtner dem Surfer Thiago Jacaré das Leben. Vier Schaumwalzen hatten den Brasilianer überrollt, zehn bis fünfzehn Meter hohe Wellen. Es ging um Sekunden. Jacaré, gerade noch bei Bewusstsein, war schon kurz vor den Klippen. 

Es kommen nun auch die Freaks nach Nazaré, sagen einige inzwischen. Die Übermütigen. Jene, die sich anmaßen, das Meer auch bei 99 Prozent besiegen zu können. Die Tragödie liebt das. Sie beginnt meist mit einer Katastrophe und steigert sich langsam. Dann geht es dem Held an den Kragen.

So war es schon immer, schon im alten Griechenland.

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